Prof. Dr. Martin Przybilski

Universität Trier

Curriculum Vitae

Prof. Dr. Martin Przybilski ist Literaturhistoriker und Kulturwissenschaftler. Er hat in Paderborn und Würzburg studiert und 1999 mit einer Arbeit zum Thema „sippe und geslehte. Verwandtschaft als Deutungsmuster im 'Willehalm' Wolframs von Eschenbach“ promoviert. Es folgten Tätigkeiten als Honorarkraft am Genisa-Projekt des Jüdischen Kulturmuseums Veitshöchheim sowie als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig. Darüber hinaus war Martin Przybilski Lehrbeauftragter für Ältere deutsche Philologie und Jiddistik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Von 2001 bis 2003 erhielt er zudem ein Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Anschließend war er als Juniorprofessor für Ältere deutsche Philologie an der Universität Trier tätig, wo er 2009 auf eine Universitätsprofessur für Literatur des Mittelalters berufen wurde. Des Weiteren war er von 2009 bis 2015 geschäftsführender Leiter des Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums Trier (HKFZ) und von 2015 bis 2019 Vizepräsident für Studium, Lehre und Weiterbildung der Universität Trier.

Von Oktober 2019 bis März 2020 war Prof. Dr. Martin Przybilski Fellow am Käte Hamburger Kolleg „Recht als Kultur“ in Bonn.

Forschungsprojekt

„Recht und Polemik. Religiöse Demarkation und kultureller Kontakt zwischen Juden und Christen“

Im Gegensatz zum Christentum definiert sich das normative Judentum seit der Antike seinem Wesen nach als kultische Rechtsgemeinschaft, die einem spezifischen, göttlich offenbarten und legitimierten nomos unterworfen ist. Die Diskussion und Kodifizierung der religiösen Rechtsüberlieferungen wird dabei als beständige Weiterentwicklung der sogenannten ‚mündlichen Lehre‘ verstanden. Ihre schließliche Verschriftlichung erfuhr die mündliche Lehre, ohne dass damit ein endgültiger Abschluss des Diskussionsvorgangs über sie einhergegangen wäre, in der Spätantike in Form des Jerusalemer und des Babylonischen Talmuds, von denen die letztgenannte Redaktion recht bald bereits als die verbindliche verstanden wurde, da ihre Entstehungsbedingungen im Gegensatz zum älteren Jerusalemer Talmud originär mit der spätestens seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert prägenden Existenzform des jüdischen Volks verknüpft waren – der Diaspora.

Aus einer Perspektive des jüdisch-kultischen Rechts heraus ist der Status des gesamten jüdischen Volks zunächst derjenige von Dienern der Sphäre des Heiligen im Diesseits, während die Angehörigen anderer ethnischer und/oder kultischer Gruppen idealiter weder in der Geschichte noch in der Gegenwart irgendeine Rolle spielen sollten. Da sich die historische Realität des spätantiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judentums jedoch unter konsequent anderen Bedingungen entfaltete, Jüdischsein mithin als diasporische Erfahrung immer schon die eigene Existenz als interdependente Kategorie in Relation zu nichtjüdischen Gruppen einschloss, widmen sich große Teile der talmudischen und nachtalmudischen Rechtsdiskussion der Abgrenzung zwischen dem Eigenen und den Anderen, wobei ganz wesentlich die Mittel rhetorischer Polemik zur Ziehung möglichst deutlicher Demarkationslinien genutzt werden. Dies gilt insbesondere auch für die das zentraleuropäische, sogenannte aschkenasische Judentum nachhaltig prägenden Jahrhunderte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit: Die historische Realität der rechtlich-sozialen Marginalisierung und Unterdrückung durch eine nichtjüdische Majoritätskultur wurde auf jüdischer Seite sowohl anerkannt als auch durch Rückgriff auf die eigene, als heilsgeschichtlich überlegen verstandene Rechtstradition aufgefangen. Die nomistische Existenz des jüdischen Volks hing somit auf der einen Seite von einem nichtjüdischen nomos – in diesem Fall dem Christentum – ab, konnte dadurch sogar bedroht werden, sodass der Autoritätsanspruch der majoritären Kultur für den geschichtlichen Augenblick nolens volens anerkannt wurde, wohingegen die religiöse Legitimität eben jener Kultur abgelehnt werden musste, um die eigene nomistische Solidaritäts- und Demarkationskultur bewahren zu können. Um die jeweils eigene historische Gegenwart erklären zu können, die durch die beständig vorhandenen Bedrohungen der Konversion, Vertreibung oder Vernichtung letztlich als Imponderabilientextur wahrgenommen wurde, griffen die rabbinischen Autoritäten des aschkenasischen Judentums wiederum auf die in der Spätantike entwickelten Deutungsmuster des Babylonischen Talmud zurück. Und da bereits die talmudische Diskussion über die kultisch-rechtlichen Implikationen der Existenz der Anderen jenseits des jüdischen Volks das Mittel der polemischen Zuspitzung präferiert hatte, wurde die religiöse Polemik auch zu einer bevorzugten Diskursform im Umgang mit dem Christentum und seinen Bekennern.

Das Bewusstsein dafür, dass diese spezifische Form der Polemik innerjüdisch stets im Zusammenhang mit religionsgesetzlichen Diskussionen gesehen wurde, also letzten Endes einen Modus der juristischen Debatte innerhalb der halachah darstellte und somit weniger auf die Verunglimpfung des nichtjüdischen Objekts als vielmehr auf die Verdeutlichung der Beweisführung abzielte, ging allerdings in der seit dem 13. Jahrhundert einsetzenden christlichen Rezeption des Talmud verloren. Abgesehen von wenigen Vorläufern im Frühmittelalter wie den Lyoner Bischöfen Agobard und Amulo setzte diese Rezeption ab 1240 mit dem sogenannten Pariser Talmudprozess ein, in dessen Verlauf zum ersten Mal lateinische Übersetzungen talmudischer Passagen angefertigt wurden, die aus Sicht der am Prozess beteiligten christlichen Theologen inkriminierten Inhalts waren, also als widernatürlich, blasphemisch oder grundsätzlich antichristlich eingestuft wurden. Die immense Popularität und Wirkungsbreite dieser als ‚Excerpta Talmudica‘ bekannten Textgattung innerhalb der gelehrt-lateinischen, bereits ab dem Beginn des 14. Jahrhunderts aber auch in volkssprachlichen Werken für ein christliches Publikum verbreiteten Sammlung talmudischer Passagen führte zu einem fortgesetzten Missverhältnis in den jeweiligen jüdischen und nichtjüdischen Rezeptionsweisen: Polemik gegen Nichtjuden bildete innerjüdisch weiterhin eine legitime Form des Rechtsdiskurses;  außerjüdisch wurde die gleiche Polemik als reine Verunglimpfungsstrategie und Beweis jüdischer Bösartigkeit interpretiert. Diese rivalisierenden Verständnishorizonte endeten keineswegs mit dem Ende des Mittelalters oder dem Beginn der Moderne: Sowohl bei Martin Luther im 16. als auch in den protoethnographischen Studien Johann Jacob Schudts im 17. Jahrhundert, aber auch in zahlreichen antisemitischen ‚Klassikern‘ des 20. Jahrhunderts wie bei judenfeindlichen Weltverschwörungstheoretikern des Internetzeitalters wird die talmudische Polemik immer wieder zitiert, während jüdische Apologeten spätestens seit dem 19. Jahrhundert darum bemüht waren, die entsprechenden Passagen historisierend zu entschärfen.

Publikationen (Auswahl)

Monographien und Herausgeberschaften

  • Konversion in Räumen jüdischer Geschichte, Wiesbaden 2011. (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 11). [hrsg. zusammen mit Carsten Schapkow]
  • Orts-Wechsel: reale, imaginierte und virtuelle Wissensräume. Wiesbaden 2011. (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 10). [hrsg. zusammen mit Ulrich Port]
  • Orte - Ordnungen - Oszillationen. Raumerschaffung durch Wissen und räumliche Struktur von Wissen. Wiesbaden 2011 (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 4). [hrsg. zusammen mit Natalia Filatkina]
  • Studien zu ausgewählten Fastnachtspielen des Hans Folz. Struktur - Autorschaft - Quellen. Wiesbaden 2011.
  • Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 2010 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 61).
  • sippe und geslehte. Verwandtschaft als Deutungsmuster im 'Willehalm' Wolframs von Eschenbach. Wiesbaden 2000 (Imagines Medii Aevi 4).

Aufsätze

  • Jüdische Körper als Subjekte und Objekte des kulturellen Transfers in der Vormoderne. In: 'Rasse' und Raum. Topologien zwischen Kolonial-, Geo- und Biopolitik: Geschichte, Kunst, Erinnerung. Hrsg. von Claudia Bruns. Wiesbaden 2017, S. 61-77.
  • Ludwik Flecks Denkkollektiv und die historischen Kulturwissenschaften. In: Zyklos 3 (2017), S. 53-70. [zusammen mit Birgit Ulrike Münch]
  • Preußen als heiliges Schlachtfeld. Die Sakralisierungsstrategien in der 'Kronike von Pruzinlant'. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 135 (2016), S. 367-381. [zusammen mit Hanna-Myriam Häger]
  • Zwischen den Kulturen? Überlegungen zu den von Juden und Christen geteilten literarischen Horizonten in der Vormoderne. In: Aschkenas 25 (2015), S. 11-28.
  • Konversion als Form und Möglichkeit des Kontakts und Austausches zwischen Juden und Christen im europäischen Mittelalter. In: Konversion in Räumen jüdischer Geschichte. Hrsg. von Martin Przybilski und Carsten Schapkow. Wiesbaden 2014 (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 11), S. 5-20.